MTK   |   Onlinepublikationen   |   B06 Sonderforschungsbereich 933: Materiale Textkulturen.
Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften
 

Thomasin-Projekt: Methoden und Ziele



Heuristik

Wir untersuchen und beschreiben alle erhaltenen Kodizes und Fragmente des ›Welschen Gastes‹. Besonders achten wir dabei auf Produktions- und Überlieferungsspuren wie Schreiberwechsel, unregelmäßige Lagenstrukturen, Zeugnisse der Kopierprozesse und spätere Eintragungen. Digitalisate aller Handschriften sind im Open Access verfügbar. Damit kann die gesamte Überlieferung des Werkes in hochauflösenden Abbildungen überblickt und studiert werden.

Basistranskription

Wir transkribieren die Texte aller erhaltenen Handschriften im XML/TEI-Format. Dabei differenzieren wir zwischen verschiedenen Allographenformen, markieren Abbreviaturen und lösen sie auf, halten Korrekturen, Einfügungen, Tilgungen und Umstellungen fest und zeichnen graphische Hervorhebungen aus. So stellen wir der Forschung mit einem klar umgrenzten Korpus von Handschriften aus drei Jahrhunderten ein umfangreiches und übersichtlich kodiertes Grundlagenmaterial für paläographische Untersuchungen zur Verfügung. Die Transkriptionen sind mit Digitalisaten verknüpft und in Synopsen dynamisch anzeigbar.

Philologische Aufbereitung

Wir tokenisieren die transkribierten Texte nach standardisierten Regeln, lemmatisieren sie mit Referenznummern des neuen ›Mittelhochdeutschen Wörterbuchs‹ und annotieren sie mit POS-Tags sowie mit morphologischen Kategorien. Damit verleihen wir den transkribierten Zeichen(ketten) eine semantische Dimension, welche die Texte für vielfältige graphetische, sprachliche und inhaltliche Analysen erschließt.

Gesamtkollation

Wir verknüpfen quer über alle Textzeugen einander entsprechende Textsegmente miteinander und halten deren Übereinstimmung oder Differenz auf graphetischer, dialektaler, morphologischer, syntaktischer sowie semantischer Ebene fest. Zur Bewältigung dieser Aufgabe entwickeln wir ein graphbasiertes Datenmodell und eine graphische Benutzeroberfläche.

Phylogenetische Analysen

Wir nutzen die bei der Kollation entstehenden Daten zu phylogenetischen Untersuchungen mithilfe biogenetischer Software. Damit können die Filiationsverhältnisse zwischen Handschriften und Handschriftengruppen statistisch präzise analysiert werden. Im Unterschied zu herkömmlicher Stemmatologie stehen uns so beispielsweise Wahrscheinlichkeitswerte für einzelne Stammbaumverzweigungen zur Verfügung. Jenseits vertikaler Stammbäume können auch Kontaminationsphänomene und andere Dimensionen von Handschriftenverwandtschaft (z.B. Schreibsprache und Lexik) analysiert und in Netzwerkgraphen dargestellt werden.

Dynamische Apparate

Wir entwickeln dynamische digitale Filter, die aus im Rahmen der Kollation feinkörnig segmentierten und alinierten Daten neuartige Visualisierungen der mittelalterlichen Textvarianz generieren. So können wir Lesarten direkt an den Ästen hypothetischer Stammbäume anzeigen, sie je nach Entstehungsort der Handschriften auf geographische Karten projizieren oder je nach Entstehungszeit der Handschriften auf einer Zeitachse einblenden.

Bilderschließung

Wir ordnen die Illustrationen einzelner Handschriften gemeinsamen Motiven zu und analysieren einzelne Bildkomponenten nach Figuren, Gegenständen und Bildtexten. Die Umrisse von Illustrationen und deren Komponenten markieren wir über ihre Koordinaten auf den Digitalisaten. Textuelle Bildkomponenten transkribieren und übersetzen wir und verknüpfen diese Texte mit den Bildformen. Die Verlinkung auf mehreren Ebenen ermöglicht eine dynamische Visualisierung einander entsprechender Illustrationen, Bildkomponenten und Bildtexte. Ebenso ist eine Suche nach bestimmten Figuren quer über das Bildkorpus möglich.

Text-Bild-Beziehungen

Wir verknüpfen die Illustrationen mit dem Haupttext einerseits anhand der physischen Platzierung konkreter Bilder in den Handschriftentexten, andererseits auf einer ideellen Ebene anhand des inhaltlichen Bezugs zwischen Textpassagen und den dazugehörigen Illustrationen. Diese Beziehungen stellen wir anhand graphischer Marker im digitalen und gedruckten Medium dar.

Kritischer Text (für eine spätere Projektphase geplant)

Wir möchten auf der Basis der ältesten Handschrift A (Cod. Pal. germ. 389) einen sprachlich behutsam normalisierten und aufgrund der Erkenntnisse aus der Gesamtkollation verbesserten kritischen Text erstellen. Dieser soll frei digital verfügbar sein sowie in Buchform als Leseausgabe erscheinen. Der kritische Text soll die Versionen einzelner Handschriften nicht ersetzen und auch keinen Autortext rekonstruieren, sondern optimalerweise ein Text sein, der »die überlieferten Texte am besten zu erklären vermag« (Peter Robinson) und Zugangswege zu diesen aufzeigt.